Logbuch

Schreiben, Lesen und ein schwerer Abschied. Vierte Soltauer Woche

Anderer Blick aus dem Fenster

Nun ist sie tatsächlich fertig geworden: die Erzählung, die in der Heide spielt. Ein herrlich sonniges Wochenende verbrachte ich am Schreibtisch und habe rein gar nichts vermisst. Denn sie war ja da, die Sonne, und schien freundlich auf meine Zettelwirtschaft, aus der sich langsam, langsam der Text herauskristallisierte.

So konnte ich die Erzählung am Dienstagabend in einer ersten vorzeigbaren Fassung, frisch vom Schreibtisch weg, ein paar Stufen tiefer in der Bibliothek Waldmühle lesen und von der anschließenden Diskussion mit meinen ZuhörerInnen profitieren. Das war ein schöner und anregender Abend, der anschließend an anderem Ort bei leckerem Essen und Trinken in fröhlicher Runde ausklang.

Bibliothek, vom Böhme-Park aus

Danach war ich erschöpft und glücklich und habe die folgenden zwei Tage im Wesentlichen mit dem Einlösen von Gutscheinen verbracht. Und siehe da: Im Soltauer Spielmuseum wartete eine anrührende Geschichte auf mich, die, wer weiß, vielleicht auch eines Tages erzählerisch umgesetzt sein will. Das größte der dort ausgestellten Puppenhäuser stammt von zwei Brüdern, den „Hausherren von Dingley Hall“, die mit Bau und Einrichtung (in den Fächern eines Bücherregals) in ebendem Jahr begannen, in dem ihre beiden Schwestern starben. Die Museumsleiterin, Antje Ernst, erzählte mir mehr über die Brüder, ihre Familie und die schrittweise Spurensuche und Entdeckung ihrer Geschichte. Das war sehr interessant und die Begegnung mit ihr überhaupt sehr schön. Die Geschichte von Dingley Hall wird mich wohl noch länger begleiten.

Ansonsten ist zu berichten, dass der Soltauer Bürgermeister, wenn er es irgendwie einrichten kann, den Gästen der Künstlerwohnung (nämlich im November mir) gerne seine Stadt zeigt, die zum Beispiel ein autofreies Viertel und eine nigelnagelneue Siedlung mit Mehr-Generationen-Häusern zu bieten hat – aber das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt. Dynamische Leute sind das, die durchaus nicht nur auf den Heide-Tourismus setzen. Das erfreulich reiche Kulturprogramm war mir ja schon vorher aufgefallen.

Und schließlich habe ich dem Soltauer Gymnasium einen kurzen Besuch abgestattet, geführt vom netten Hausmeister, der sich spontan Zeit dafür nahm. An das Gymnasium erinnert sich die Ich-Erzählerin der Heide-Geschichte nach Jahrzehnten zurück, und dieses Erinnern konnte ich geradezu körperlich spüren, als ich von der Straße aus noch einmal in ein hell erleuchtetes Klassenzimmer sah. Ja ja, das Erleben und das Erfinden – und die fließenden Übergänge.

Zuhause-Blick

All das liegt nun hinter mir. Es ist Montagmorgen, die Böhme ist fern und der Main nah, der Blick aus meinem Fenster ein anderer. Am Samstag hieß es Abschied nehmen, und der ist mir wirklich nicht leicht gefallen. Zum Glück hat mir Ulrike Bartnik noch, bevor wir zum Bahnhof fuhren, Breidings Garten gezeigt, einen verwunschenen Ort, an dem ich ja vielleicht einmal lesen werde, wenn ich zu einer wärmeren Jahreszeit wiederkomme. So lag bei diesem Abschied schon die tröstliche Aussicht aufs Wiedersehen in der Luft.

Für mich war es der erste Aufenthalt dieser Art: eine Auszeit vom Alltag in neuer Umgebung, um mich ganz auf ein literarisches Projekt zu konzentrieren. Das war eine fantastische Erfahrung. Da ich mich zurzeit ja auch zu Hause mehr oder weniger aufs Schreiben konzentrieren kann, hatte ich den Effekt vollkommen unterschätzt. Ich genoss die Einsamkeit, hatte neben der selbstgewählten Klausur wunderbare Begegnungen – und komme mit vollen Händen zurück: Nicht nur die Heide-Geschichte ist in diesen Wochen entstanden, die ich von zuhause aus gar nicht hätte schreiben können. Ich fand auch die Ruhe und den Abstand, die Textauswahl meines Erzählbands zu überdenken, drei der in Arbeit befindlichen Erzählungen zu überarbeiten und den Band abzuschließen, dem jetzt nur noch der Feinschliff fehlt. Vor meiner Abreise hätte ich das nicht für möglich gehalten. Und das Schönste: Bei all dem ist es gelungen, die innere Gouvernante in Schach zu halten und dem Kobold Raum zum Spielen zu geben – siehe Anfang! Und alles andere ist wohl auch nur deswegen gelungen.

Im Böhme-Park während der ersten Tage

Gründe genug, einen herzlichen Dank in die nahe Ferne zu senden: nach Soltau, das diese schöne Einrichtung seit Jahrzehnten bereithält, und an den Freundeskreis der Soltauer Künstlerwohnung, der alles so wunderbar organisiert und dafür sorgt, dass die Fremde schnell nicht mehr fremd, sondern freundlich vertraut ist – allen voran Ulrike Bartnik, die mich durch diesen November begleitet hat.

Und wie es immer so ist – am Ende steht ein Anfang:

Riesen

Ich habe mit Ruth gesprochen.

Ich hatte sie auf der Website einer dieser jungen Firmen wiedergefunden, irgendetwas mit Neuen Medien. Ruth als Senior Consultant. Bevor ich noch wusste, was ich tat, habe ich zum Hörer gegriffen.

Ihre Stimme war halb fremd und halb vertraut, noch rauer als damals, dunkler auch. Herzlich war sie und fern. Die Herzlichkeit passte nicht zu ihr und wirkte eingeübt, Soft Skills, aber das kann auch an mir gelegen haben: an der inneren Verkrampfung und der Frage, was eigentlich ich mir von diesem Gespräch erwartete. Und an dem Gefühl, weit zurück zu sein im Vergleich zu ihr, genau wie damals, als Kind: fast zwei Jahre jünger und weit, weit zurück.

Es gibt ein Foto von Ruth und mir. Wir stehen auf dem Wilseder Berg, neben uns der Gipfelstein mit den Höhenangaben: 169,2 Meter. Wir stehen da wie nach einer richtigen Bergbesteigung, Triumph im Blick. Sie hat ihren Arm um mich geschlungen, es ist nicht zu erkennen, ob Umarmung oder Würgegriff. Ich strahle und habe rote Backen.

Sie war damals meine Heldin. Was Ruth sagte und tat, das hatte Gewicht. Sie hat nicht erwarten können, von zuhause fortzugehen, und ich wäre gern gewesen wie sie, so aufbegehrend, in die Weite drängend. Aber ich war nicht wie sie.

Meine Sehnsucht, damals, ging in die genau entgegengesetzte Richtung.

Auf Wiedersehen in Soltau!