Texte

Leo coming home

Würzburg liest ein Buch

Zu Beginn des Main-Post Stadtgesprächs am letzten Freitag hatte ich eine Art persönliches Resümee der Aktionswoche „Würzburg liest ein Buch“ vorgelesen. Es ist eigentlich ein Sprechtext, aber ich füge ihn im Folgenden mal als Lesetext an. In Kursivschrift sind Zitate aus „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank enthalten.

Update (1.11.22): Gestern habe ich den Text noch einmal anlässlich eines Doppeljubiläums – 140. Geburtstag von Leonhard Frank und 40 Jahre Leonhard-Frank-Gesellschaft – im Theater am Neunerplatz vorgetragen. Schön war’s, die Euphorie der damaligen Aktion noch einmal aufleben zu lassen!


Test Test Leonhard – Test Leo Test Test –
Leo coming home?
Leo coming home!

Das hättest du dir auch nicht träumen lassen, was?
Deine Träume, Leonhard …
Nein, der Sozialismus ist im Jahr 2000 nicht gekommen.
Aber immerhin, stell dir vor, 2014 im April:
Ein Buch geht um in der Stadt.

Die Stadt, weißt du noch?

Ein 14-jähriges Mädchen hat weitergeschrieben: dein Buch.
Wir sagen Schoppen und meinen Literatur, im Express
einmal durch die Stadt und zurück: dein Buch. Dieses Buch, Leonhard.
Lesen einander vor,
tanzen, malen, spielen es,
erzählen uns diese Geschichte,
erzählen von diesen Zwölf, die deine Träume träumten,
als wären‘s die unseren.
Schreiben sie auf Steine,
bemalen Ölfässer auf einer Promenade, die deinen Namen trägt,
Leonhard!
Dein Buch geht um in der Stadt.

Wir, Vollstrecker der Gerechtigkeit,
nehmen von den Reichen, die alles haben, und geben es
Nein, so weit gehen wir nicht.
Da müssten wir schon der Einfachheit deiner Worte folgen,
dem an die Hoffnung verlorenen Herzen,
das uns wieder zeigt, wie man träumt.

*

Aber immerhin:
Immerhin dieser Satz durch die Straßen wie ein Echo:
Wenn es dunkel geworden ist, wird Licht angezündet.

Wenn es dunkel geworden ist, Leonhard,
auf den Mauern des Rathauses in einer Schrift aus Licht
hingeworfen dein Anfang:
Würzburg, die Stadt des Weines und der Fische, der Kirchen …
Dann die Brandbomben, dann immer noch der Main,
langsam durch Schutt und Asche hinaus in die Zeit.

Die Zeit, Leonhard, ist auf einmal reif:
Wir lesen.

*

Auch wenn …
Auch wenn immer noch:
Immer noch erzählen wir uns ein wenig zu oft
von Brandbomben wie aus heiterem Himmel gefallen,
als gäb’s kein Gestern,
kein Davor,
als hätte dieses Ende keinen Anfang,
als müssten wir diese Geschichte nicht immer und immer wieder vom Anfang her erzählen.

Aber immerhin:
Im letzten März, am sechzehnten
als es dunkel geworden war,
stand ich vor dem Dom.
Du weißt die Stunde.
Ich hörte die Glocken,
hörte die Glocken mit dem ganzen Körper,
dachte an den Untergang der Stadt,
glaubte in den Gesichtern der Alten
Erinnerung spiegeln zu sehen an jene Nacht,
und dann
dachte ich an Ruth.

Dachte an die, die schon fort waren,
an die, die fehlten,
an die, die sich versammelt hatten Jahre zuvor
zum vorgeschriebenen Zeitpunkt
an den für ihresgleichen vorgeschriebenen Orten der Stadt.
An die Waggons dachte ich,
an die dunkle Reise,
dachte: an Ruth.

Du hast sie uns in diese Stadt hineinerfunden, Leonhard.
Du hast sie uns in diese Stadt zurückgeschrieben.
Eine Geschichte, ist sie einmal in der Welt, erzählt ihre eigene Wahrheit.

*

Eine Geschichte, ist sie einmal in der Welt, soll erzählt werden
und erzählt
und weitererzählt.
Wir gehen durch diese Straßen, in die du uns Geschichte geschrieben hast,
und fragen uns:
Was würden wir dir heute übelnehmen, Leonhard?
Auf welcher Wunde läge dein Finger?
In welche Dinge, die dich nichts angehen, würdest du dich einmischen?
Es ist eine gute Frage
und wir verklären dich dabei ein bisschen,
das ist normal,
das tut uns gut.

Ach Leonhard:
Vorgeborener, Vorausgegangener, zweifacher Emigrant,
der du dich in Dinge einmischtest, die dich nichts angingen,
sieh es uns nicht nach, uns Nachgeborenen,
unser Nichteinmischen in Dinge, die uns angehen.

*

Aber sieh sie uns nach:
die Verspätung unsrer Sympathie,
unser Jahrzehnte verschobenes Lesen,
uns Ungeprüften, Verschonten.
Gedenke unsrer
mit Nachsicht.


Der Text verwendet Zitate aus „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank (in Kursivschrift). Das Buch ist 2013 in einer Neuauflage beim Verlag Königshausen & Neumann erschienen und in allen Würzburger Buchhandlungen sowie überall im Buchhandel erhältlich. Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlags, Berlin.