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Ekingg (Auszug)

Macondo, Heft 18: Schmerz
Macondo 18: Schmerz

Ich bin zu früh dran.
„Paul!“, ruft sie und winkt mir zu, „noch fünf Minuten!“
Ich nicke, und sie dreht sich wieder zum Aufzugschacht und unterhält sich mit einem Bauarbeiter. Der Bauarbeiter macht viele Pausen zwischen den Worten. Ich kann ihn aus dieser Entfernung nicht hören, aber ich sehe, dass seine Lippen sich nur selten öffnen. Vielleicht ist es Köpcke, von dem sie mir erzählt hat: der Schweigsame, Zuverlässige, mit dem sie gern zusammenarbeitet.
Jetzt spricht Lina. Ihr muss ich nicht von den Lippen lesen. Manche Menschen ändern sich bis zur Unkenntlichkeit, wenn sie erwachsen werden. Meine Schwester nicht. Sie ist jetzt Architektin, aber das war sie eigentlich schon immer. Und schon als Kind hat sie so geredet, mit Händen und Füßen und leuchtenden Augen.
Und doch ist da etwas Fremdes. Nein, etwas Altvertrautes, aber fremd an Lina. Etwas, das zu jemand anderem gehört hat. Etwas, das für immer begraben ist.
Dachte ich.

Manche Menschen sind auf dem Land aufgewachsen, andere in der Stadt, in einer großen oder kleinen, alten oder neuen Wohnung oder in einem Haus, in den Sechzigern, Siebzigern oder Achtzigern. Man könnte sagen, Lina und ich wuchsen in einer Altbauwohnung in München Schwabing auf. Aber das trifft es nicht einmal annähernd. Wir wohnten in Hütten aus Mammutknochen in Russland vor vierzigtausend Jahren und wanderten Zwölftausend vor Christus von Sibirien nach Amerika. Man könnte sagen, unser Vater war Professor für Vor- und Frühgeschichte, aber auch das trifft es nicht einmal annähernd. Unser Vater war ein Reisender durch Raum und Zeit, ein Spurenleser. Er konnte Bruchstücke von Vergessenem zu Erinnerungen zusammenfügen, und er hat uns die Welt in Geschichten erzählt.
„Lina, Paul, schaut mal, was ich da habe!“ Wir liefen in sein Arbeitszimmer, vorbei an den aufgestapelten Büchern, den Zeitschriften, dem runden Tischchen mit dem historischen Globus darauf, die Weltmeere ockerfarben, nicht blau. Vater stand am Schreibtisch vornüber gebeugt. Er entfaltete ein großes Blatt und breitete es auf dem Tisch aus. Geometrische Formen, Undeutliches. Ich verstand nicht, was das war. Aber dann deutete er: „Hier haben sie die Vorräte gelagert. Hier haben sie geschlafen.“
Linas Augen leuchteten, als sie sich über den Grabungsplan beugte. „Erzähl uns, was sie gebaut haben!“, rief sie.
Dann erzählte er uns: von einem kleinen Jungen Paul, der Schafe und Ziegen hütete, und seiner großen Schwester Lina, die ein Haus baute aus Schilfrohr und Lehm.
Manchmal ähnelten sich seine Geschichten, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten spielten. „Ja, ja“, sagte Vater, als ich ihn danach fragte, mit einer Stimme so fern, als hätte er soeben das Jahrtausend und ein paar Weltmeere durchquert. „Alles kehrt wieder, aber die Dinge wiederholen sich nicht.“ Wir verstanden nicht, was er meinte. Aber seine Augen leuchteten wie die von Lina, und er sagte es immer wieder. Es musste eine geheime Wahrheit darin stecken.

 

Wann ist der Plan durcheinander geraten? Man könnte sagen, es begann, als seine Stimme brüchig wurde. Aber heute weiß ich, es begann vorher, in der Frühgeschichte meiner Kindheit, aus der ich keine Geschichten mitgenommen habe, nur Bruchstücke. Es begann mit einem Bild, in dem Vater neben Mutter steht, vielleicht an einem Geburtstag, denn Mutter ist schön und bunt gekleidet, und da ist Musik. Jetzt sagt sie etwas zu ihm, ihre dunkle Stimme summt in meinem Ohr, und Vaters Oberkörper neigt sich ein wenig nach vorne, sein Kopf wendet sich zur Seite, sein Blick wandert suchend nach oben an Mutters Kopf vorbei, als wolle er ihre Worte von der Decke ablesen. Sein linkes Ohr ist jetzt ganz nah vor ihrem Mund. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so stehen sehe, mit nach vorn gebeugtem Oberkörper, den Kopf seitlich nach oben geneigt. Ein Mensch wie ein Fragezeichen.

Wortlaut 20
Wortlaut 20

„Was sagst du, Schatz?“
Wir gewöhnten uns an die Frage, sie begann zu ihm zu gehören wie die Geschichten und Grabungspläne. Ich wiederholte laut, was ich gesagt hatte, in sein linkes Ohr hinein. Lina musste selten wiederholen, denn ihre Stimme war schon immer voller Energie und Kraft, und sie sprach mit Händen und Füßen und leuchtenden Augen.
„Warum bist du wieder ein Baby?“, fragte sie streng. Ich war sieben und machte nachts wieder ins Bett. Ich ahnte nicht, was geschehen würde und dass das erst der Anfang war, Teil eines Plans, den wir nicht lesen konnten. Aber etwas lag in der Luft und drückte mir auf die Schultern.

. . .

(C) Ulrike Schäfer 2006 / 2014

Auszug aus: Macondo – Die Lust am Lesen, 10. Jg. 2007, Heft 18, S. 86-89.
Überarbeitete Fassung in: Wortlaut – Zeitschrift für Literatur in Franken. 20. Jg. 2014, Heft 20, S. 47-52.

„Ekingg“ erscheint im August / September 2015 in einem Erzählband von Ulrike Schäfer bei Klöpfer & Meyer.