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Ruth, noch immer unterwegs

Heute Abend zeigt das theater ensemble Würzburg noch einmal meine Bearbeitung des Dramas „Ruth“ von Leonhard Frank im Rahmen einer Szenischen Lesung. Die Aufführung des Stücks ist für Ende des Jahres geplant.

In KulturGut Nr. 14 hatte ich im Februar Hintergründe des Dramas und den Charakter der Bearbeitung beschrieben (das Heft liegt zurzeit in Würzburg aus; online ist der Artikel hier zu lesen). Und und da ich mit Ruth noch immer unterwegs bin, habe ich einige weitere Hinweise notiert, die im theater ensemble ausliegen und die ich unten anfüge.

Foto: Ralf Thees
Foto: Ralf Thees

Ruth, noch immer untewegs

Zur Bearbeitung des Dramas „Ruth“ von Leonhard Frank

Wie das manchmal so ist: Die schwierigsten Fragen lauern im Hintergrund. In diesem Fall lauerten sie im dunklen Hintergrund der Figur Ruth, als sie nach dem Krieg schwer traumatisiert nach Würzburg zurückkommt. Was widerfuhr ihr nach ihrer Deportation?

Leonhard Frank hat Ruths Schicksal in drei Varianten geschildert: Im Roman „Die Jünger Jesu“ wird sie nach Auschwitz deportiert und erleidet später in einem Warschauer Soldatenbordell das, was wir heute Zwangsprostitution nennen. In der ersten Dramenfassung ist Warschau durch Krakau ersetzt. In der zweiten und letzten Fassung schließlich hat Frank die staatlich organisierte zu einer individuellen Tat gewandelt: Ruth wird von SS-Soldaten in Auschwitz mehrfach vergewaltigt.

Warum Leonhard Frank diese Änderungen vorgenommen hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise wurde er darauf hingewiesen, dass die Verschleppung einer Jüdin in ein deutsches Soldatenbordell unrealistisch sei (obwohl Verstöße gegen das Rassengesetz durchaus vorkamen – offenbar desto häufiger, je weiter vom „Reich“ entfernt). Individuelle Gewalttaten in einem Konzentrationslager dagegen, wie er sie in der zweiten Dramenfassung schildert, sind historisch unwiderlegbar.

Aber ist historische Unwiderlegbarkeit dasselbe wie Wahrhaftigkeit? Oder anders gefragt: Welche Wahrheit versucht Literatur zu erzählen, und wie tut sie das?

Eine Möglichkeit zeigt die geschilderte Ermordung von Ruths Eltern auf dem Würzburger Marktplatz: Diesen Mord einer aufgepeitschten Menge an einem jüdischen Ehepaar hat es so nicht gegeben. Sehr wohl gab es die Ausschreitungen während der Reichskristallnacht, die brennende Synagoge in Heidingsfeld und schließlich die Deportationen. Von all dem erzählt Frank komprimiert und stellvertretend in einer einzelnen erfundenen Tat, und er siedelt diese Tat in Würzburg an, stellvertretend für zahllose reale Schauplätze in dieser Stadt und anderswo.

Als ich im Herbst 2013 mit der Bearbeitung von Franks Drama begann, fing ich zugleich mit der Lektüre von Forschungsliteratur zu sexualisierter Gewalt im Nationalsozialismus an. Große Teile dieser Thematik waren, obwohl es nach dem Krieg durchaus Berichte gegeben hatte, jahrzehntelang in der Geschichtsschreibung weitgehend ausgeklammert. Das betrifft etwa die flächendeckende Organisation von Soldatenbordellen in Frankreich und anderen besetzten Gebieten sowie die Häftlingsbordelle in Konzentrationslagern. Zu letzteren wurde erst ab Mitte der Neunzigerjahre systematisch geforscht, eine umfassende Arbeit stammt von 2009. Die KZ-Gedenkstätten begannen erst in diesem Zeitraum, die Lagerbordelle zu kennzeichnen und ihre Opfer in die Erinnerungskultur einzubeziehen. Ebenfalls erst ab Mitte der Neunzigerjahre begannen umfassende Untersuchungen zum System staatlich organisierter Prostitution (einschließlich Zwangsprostitution) der deutschen Besatzer in Frankreich.

Warum schildere ich das alles? Zum einen, weil der historische Hintergrund, den Frank seiner Figur verleiht, aufgrund der um Jahrzehnte verzögerten Aufarbeitung (die nur noch teilweise gelingen kann) hochaktuell ist. Zum anderen, weil ich mich, neben dramaturgischen Änderungen und einem geänderten Schluss, in diesem Punkt entschieden habe, von Franks Erzählung abzuweichen. Eine individuelle Gewalttat von SS-Männern an einem jüdischen Mädchen mag historisch „wasserdicht“ sein, sie macht die Geschichte um Ruth dennoch weniger wahrhaftig, als sie sein könnte. Ich habe mich bei der Bearbeitung – vorläufig und versuchsweise – zu einer anderen Erzählung entschieden:

Ruth nennt während der Gerichtsverhandlung das gleichermaßen nichtssagend wie alarmierend klingende Wort „Sonderbau“. Es ist die Bezeichnung, unter der die Lagerbordelle der Konzentrationslager geführt wurden, in denen Häftlingsfrauen Zwangsprostitution für privilegierte Häftlinge leisten mussten. Auch in Auschwitz hat es einen solchen Sonderbau gegeben. Nach allem, was wir wissen (es gibt die Akten, aber nur sehr wenige Aussagen von Opfern), wurden für die Lagerbordelle keine Jüdinnen ausgewählt. Man kann die Bearbeitung also in diesem Punkt als historisch falsch bezeichnen – oder aber die Figur Ruth in einem umfassenderen Sinn als stellvertretend verstehen, nicht nur für ein jüdisches Schicksal. Das ist es jedenfalls, wozu ich mich schließlich entschieden habe.

So haben einige wenige Sätze des Dramas mich die längste Zeit beschäftigt – und werden es wohl noch weiter tun. Als nächstes steht womöglich die Suche nach den realen Spuren meiner eigenen Erfindung an.

Es ist eine merkwürdige Sache mit der literarischen Wahrhaftigkeit.